Der Konsummotor seid Ihr!

Ein Grundproblem, das den Menschen von jeher quält, ist die Frage nach dem Sinn seiner Existenz. Nicht nur in dicken Philosophie-Wälzern kann man nach der Antwort suchen. Man findet sie zuweilen sogar in der Wirtschaftspresse. Herr Schröder machte in seiner Neujahransprache klar: „Vergessen Sie nicht, dass Sie es selbst in der Hand haben, wie es mit der Wirtschaft in Deutschland weitergeht. Auch Sie ganz persönlich können Konsummotor sein: Ihr Vertrauen in die Zukunft entscheidet mit über den Arbeitsplatz Ihres Nachbarn.“ Wenn Kaufhaus-Ketten pleite machen und Autohersteller ins Ausland abwandern, hat also ein jeder von uns daran mit schuld. Wir sollten uns wirklich schämen für unser unpatriotisches Verhalten. Doch Papa Staat und Mama Wirtschaft geben uns eine Chance zur Bewährung.
Zur Einstimmung in die umsatzstärkste Zeit des Jahres, dem Fest der Liebe, hatten wir neulich erst die Gelegenheit zu zeigen, wie lieb wir sie doch haben. An der Langen Nacht des Shoppings am vergangenen Samstag konnte man seiner Liebe sogar bis Mitternacht Ausdruck verleihen. Ein warmes Gefühl machte sich breit, als alte Bekannte wie Beate Uhse, Hennes & Mauritz uns so rührend umgarnten. Niketown wurde zur Heimatstadt. McDonalds zum Stammlokal. Jedes Schnäppchen wirkte wie ein Adrenalinstoß. Nur gut, dass die treue EC-Karte ein abruptes Aussetzen dieses Rausches verhinderte. Überall begegneten einem glückliche Menschen, die sich mit ihren Einkauftüten abmühten. Sie schienen den Sinn verstanden und ihre Erfüllung gefunden zu haben.
Ich ging weiter, wollte weitersuchen. Plötzlich ein befremdliches Bild: Ein Mann ohne Kopf, der sein Haupt in einem Einkaufswagen durch die Shoppingmeile schiebt. Treffender kann man dieses Kauf-Delirium wohl kaum karikieren.
Der Darsteller war ein Betreiber des Jugendportals narra.de, das sich kritisch mit der Konsumgesellschaft auseinandersetzt. So veranstalten die jungen Medienmacher am 27.11. den jährlichen Buy-Nothing-Day, ein Tag an dem absolut nichts eingekauft werden soll, nach der Devise: „Weniger kaufen, mehr leben“. Einmal über die Folgen unseres Konsumstils nachzudenken, mag vielleicht nicht so berauschend sein, tut aber Not. Auch Entziehungskuren können manchmal sehr bereichernd sein.

(Dieser Artikel wurde am 14.11.04 in ähnlicher Form auf der Jugendseite der Berliner Zeitung veröffentlicht.)

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